08.10.2019 | sia online | Beat Flach

Wildwuchs und Wirrwarr bei den Regeln der Baukunde beenden

Die SIA-Normen gelten als anerkannte Regeln der Baukunde. Der SIA versucht die Zahl der Normen gering zu halten und technischen Entwicklungen sowie Innovationen möglichst viel Raum zu geben. Daneben ist ein zunehmender Wildwuchs von Vollzugshilfen zu beobachten, welche keinen nachweisbaren Qualitäts- oder Sicherheitsgewinn erzielen. Dieses Wuchern muss schnellst möglich unterbunden werden.

Erinnern Sie sich an die Figur des Geografen in der berührenden Geschichte von Antoine de Saint-Exupéry «Der kleine Prinz»? Er sammelte die Berichte, wie die Welt draussen beschaffen war und schrieb sie nieder, wenn ihm der Berichterstatter zuverlässig erschien, aber er verliess seinen Schreibtisch nie. So wuchsen zwar die Beschreibungen der Welt, aber was daran wahr und richtig war, das war ihm einerlei. Wer sich in der Welt der Normen, Reglemente, Richtlinien und Empfehlungen im Bauwesen bewegt, wird wohl mitunter daran denken, ob es nicht auch bei uns ein paar «Geografen» gibt, die im stillen Kämmerlein ihre Schriften verfassen. So finden sich überraschende Vorschriften zur Rutschfestigkeit von Fussböden plötzlich in Bundesbestimmungen zum Arbeitsschutz, oder die Gestaltung von Geländern in einer Broschüre zur Unfallvermeidung im Wohnbereich u.V.m. Der Nutzen kann oftmals nur darin gesehen werden, dass eine Vollzugs- oder Kontrollbehörde sich anhand solcher «Vollzugshilfen» abzusichern versucht, ob die Regeln der Baukunde durch die Ersteller von Bauten wohl eingehalten sind. Dabei wird allzu oft ausser Acht gelassen, dass das Schweizerische System nicht auf einer Kontrolle beruht, sondern auf der Eigenverantwortung der Planenden und der Bauenden. Wäre das nicht so, müssten die staatliche Bauaufsichtsbehörde ja bei jedem Tragwerk die Statik kontrollieren.

Fraglos brauchen wir Regeln zum Bauen. Die kantonalen Baugesetze und nicht zuletzt das Strafrecht verlangen schliesslich, dass Bauherren, Planer und Handwerker die Regeln der Baukunde einhalten, auch der gesunde Menschenverstand erwartet, dass das was wir bauen von einer Qualität ist, die Bestand hat. Daher haben technische Normen oder Reglemente eine zentrale Bedeutung für die Planung und Realisierung von Bauwerken. Denn sie ermöglichen die Verständigung zwischen den Beteiligten und bilden damit die Grundlage für die erfolgreiche Umsetzung von Vorhaben.

Natürlich bedeuten Reglemente auch immer ein wenig Einschränkung der Phantasie und trotz der unbestrittenen Vorteile sind Reglemente immer wieder heftiger Kritik ausgesetzt. Gerne wird dabei auf die angeblich hohen Regulierungskosten verwiesen.[1] Dieses Argument hält jedoch einer näheren Prüfung nicht statt. Dass beispielsweise die Einhaltung der SIA Norm SIA 358 Geländer und Brüstungen zu Mehrkosten führen soll im Vergleich zu "keiner Regelung", ist nicht nachvollziehbar. Im Übrigen gilt dies vermutlich für alle Normen, die in den kantonalen Baugesetzen und letztlich auch vom Strafrecht und Privatrecht verlangt werden. Diese Grundlagen bauen auf die Selbstverantwortung der Beteiligten. Sie sind zudem eher knapp abgefasst.

Es sind denn auch nicht die Gesetze und Normen, sondern die Summe an Vollzugshilfen, welche die Regulierungskosten in die Höhe treiben. Aus Angst, bei einem Unfall oder einem sonstigen Schaden Verantwortung übernehmen zu müssen, erarbeiten kantonale und kommunale Verwaltungen, aber auch andere Akteure wie Versicherungen oder das BFU immer noch mehr und noch umfassendere Ausführungsbestimmungen aus, die die vermeintlichen Lücken im Regelwerk schliessen sollen.

Wenn jeder sein eigenes Reglement erstellt, oder mehrere Reglemente denselben Sachverhalt unterschiedlich behandeln, dann geht das nicht mehr auf. Dann verliert ein Reglement seinen Sinn. Ich habe deshalb im Nationalrat ein Postulat[2] eingereicht, das den Bundesrat auffordert eine Übersicht aller Vollzugshilfen zu erstellen und deren Koordination zu verbessern.

Die SIA-Normen gelten als anerkannte Regeln der Baukunde. Sie werden paritätisch unter Einbezug von Experten aus allen relevanten Bereichen erarbeitet und im Rahmen einer öffentlichen Vernehmlassung konsolidiert. Sie geniessen daher zu Recht eine breite Akzeptanz und bilden die aktuellen Regeln der Baukunst knapp aber konzise ab. Der SIA versucht zudem im Vergleich zum Ausland die Zahl der Normen gering zu halten und technischen Entwicklungen sowie Innovationen möglichst viel Raum zu geben.

Daneben ist ein zunehmender Wildwuchs von Vollzugshilfen zu beobachten. Ja, Partikularinteressen stützende Vollzugshilfen schiessen wie Pilze aus dem Boden. Es sind Vollzugshilfen in Form technischer Regelungen, die über das anerkannte Normenwerk hinausgehen, ohne einen nachweisbaren Qualitäts- oder Sicherheitsgewinn zu erzielen, oder die Regeln der Baukunde wiederzugeben.

Dieses Wuchern muss schnellst möglich unterbunden werden. Gemeinsam müssen wir darauf hinwirken, dass wir eine konzise Regulierung haben, welche die Beteiligten wirklich unterstützt sowie übersichtlich und überschaubar ist. Mit meinem Postulat 19.3894 verfolge ich die Absicht, ein koordiniertes, im Umfang vernünftiges Regelwerk für den Planungs- und Bauprozess zu erhalten.

1) Kuster, J., Plaz, P., Curschellas, P. (2014): Regulierungskosten im Bereich Baurecht gehen zulasten der Bauherrschaft und der Konsumenten. In: Die Volkswirtschaft 1/2–2014, 19–22.)
2) 19.3894 Postulat; Den Wildwuchs und den Wirrwarr bei den Regeln der Baukunde beenden

Beat Flach, Nationalrat
SIA-Geschäftsstelle