31.01.2022 | sia online | Laurène Kröpfli

Unsere «Best-ofs» aus der SIA-Rechtsberatung: Fall «Das zweckentfremdete Tabouret»

(Namen und Ortsangaben sind fiktiv)

Frau Ruckstuhl, dipl. Arch. ETH, wird nach erfolgreicher Teilnahme an einem Architekturwettbewerb von der Gemeinde Wildhaus beauftragt, die in die Jahre gekommene Schulanlage um- und auszubauen. Das neue Schulhausensemble soll Raum für insgesamt 30 Primarschulklassen im Tagesschulbetrieb und eine attraktive Aussenanlage für Unterrichtspausen sowie für Spiel und Sport bieten.

Die Auftraggeberin wünscht auf dem Pausenareal eine «Znüni-Ecke», in der Holztische und mobile Tabourets (Hocker) aufgestellt werden sollen. Der SIA-Planer-/Bauleitungsvertrag Nr. 1001/1, Ausgabe 2020, wird am 23. Februar 2020 unterschrieben. Im Juli 2021 erfolgt die Werkabnahme und schon wird im neuen Schuljahr das nigelnagelneue Schulhaus «Wildwuchs» in Betrieb genommen.

An einem Herbsttag im Oktober 2021 entscheidet sich die in Buchs SG wohnende Architektin, ihren freien Tag in den Bergen zu verbringen und fährt daraufhin in das nahegelegene Obertoggenburg. Ihr Zielort: der Chäserugg. Der Weg führt über Wildhaus, wo sie am besagten Schulhaus «Wildwuchs» vorbeifährt und dabei ein Tabouret aus der Znüni-Ecke vor einem Geländer in erhöhter Lage entdeckt.

Angekommen in schwindelerregender Höhe auf dem Chäserugg ist die perfekte Aussicht auf den Walensee leider getrübt von ihrer Angst, sie könne für einen Sturz eines auf dem Tabouret stehenden, neugierig und übermütig herauslehnenden Kindes verantwortlich sein.

Voller Sorge ruft Frau Ruckstuhl den SIA-Rechtsdienst an. Sie will wissen, inwiefern sie für einen Unfall verantwortlich gemacht werden könne.

Vorbemerkung: Nachstehend werden einzelne mögliche Haftungsgrundlagen und Straftatbestände gegen Frau Ruckstuhl geprüft. Potenziell Beklagte ist nicht immer gleichzeitig die Schädigerin. In einem konkreten Haftungsfall wäre vorrangig auch eine Staatshaftung oder Werkeigentümerhaftung gegen die Gemeinde als Schulträgerin zu prüfen.

1.1. Vertragliche Haftung (Auftraggeberin gegen die Planerin)
Im Zusammenhang mit einer vertraglichen Haftung gegen die Planerin würde sich die Frage stellen, ob die Planerin eine Vertragsverletzung in Form einer Sorgfaltspflichtverletzung beging, indem sie beispielsweise anerkannte Regeln der Baukunde missachtete. Zu prüfen wäre, ob eine angemessene und hinreichende Absturzsicherheit gewährleistet wurde (vgl. SIA-Norm 358). Ein weiterer Punkt wäre auch die Klärung der Frage, ob die Planerin die Bauherrschaft adäquat über die möglichen Risiken und Gefahren aufgeklärt und sie in ihrer Entscheidungsfindung entsprechend richtig beraten hatte. Gut zu wissen: Eine Planerin oder ein Planer hat eine Weisung der Bauherrschaft nicht zu befolgen, wenn sie zum Beispiel gegen die Regeln der Baukunde verstiesse oder gefährlich wäre. Schlimmstenfalls müsste das Vertragsverhältnis beendet werden, um sich vor einer potenziellen Haftung schützen zu können1.

Der Planerin wurde empfohlen, eine Abmahnung an die Bauherrin zu verfassen. Darin soll auf den vertraglich vorgesehenen Zweck der Tabourets und auf die mögliche Sturzgefahr eines zweckentfremdeten Tabourets hingewiesen werden, mit der Empfehlung, weitere Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, wie etwa eine Absperrung aufzustellen oder ein schulisches Regulatorium zu erlassen, sei es in Form eines Verbots, die Tabourets aus der Znüni-Ecke zu entfernen.

Mittels der Abmahnung kann sich die Planerin aber nur gegenüber der Bauherrschaft ihrer Verantwortung für allfällige Vertragsverletzungen entheben. Eine solche entfaltet indessen im Verhältnis zu Dritten keine direkte Schutzwirkung gegenüber ausservertraglichen Haftungspflichtforderungen oder strafrechtlichen Verfahren.

1.2. Ausservertragliche Haftung (Geschädigtes Kind / Eltern gegen die Planerin)
Schädigt die Planerin einen Dritten, im vorliegenden Fall ein Kind, kann sie gegenüber diesem ebenfalls haften, zum Beispiel nach den Regeln der unerlaubten Handlung, Art. 41 ff. OR. Ein Schadenersatzanspruch würde nebst dem Vorliegen eines Schadens, der Widerrechtlichkeit und einem Kausalzusammenhang auch das Vorliegen eines Verschuldens seitens der Planerin voraussetzen. Die Planerin handelt schuldhaft, wenn ihr Verhalten, von dem den Umständen angemessenen Durchschnittsverhalten negativ abweicht2. Die Planerin dürfte somit mindestens fahrlässig handeln und damit haftbar sein, wenn sie gegen eine Regel der Baukunde verstösst.

1.3. Strafrechtliche Verantwortung
Verstösse gegen die anerkannten Regeln der Baukunde können strafrechtliche Massnahmen mit sich ziehen. So könnte gegen Frau Ruckstuhl beispielsweise ein Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung (Art. 117 StGB) und Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde (Art. 229 StGB) eröffnet werden.

Der Tatbestand von Art. 229 StGB kann nach dem Wortlaut des Gesetzes nur erfüllen, wer die Arbeiten für die Ausführung eines Bauwerkes oder Abbruchs leitet und dabei eine besondere Gefahr, in der Regel durch Unterlassen der erforderlichen Vorsichtsmassnahmen, schafft. Der Tatbestand von Art. 229 StGB erfasst die Schaffung bautypischer Mängel bei der Erstellung eines Bauwerkes. Die zweckentfremdete Benutzung eines Bauwerkes mit Verletzungs- oder Todesfolgen dürfte gemäss Bundesgerichtspraxis nicht unter den Straftatbestand der Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde fallen3.

Betreffend einer fahrlässigen Tötung gilt festzuhalten, dass eine Planerin eine solche nur begeht, wenn sie durch pflichtwidrig unvorsichtiges Verhalten den Tod eines Menschen bewirkt. Dabei muss es für die Täterin voraussehbar sein, dass die von ihr gesetzte Ursache nach allgemeiner Lebenserfahrung und dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zum Tod eines Menschen führen kann. Das Bundesgericht hielt in einem ähnlichen Fall fest, dass wenn ein Werk den geltenden baulichen Vorschriften und den anerkannten Regeln der Baukunde entspräche, ein Unfall nicht auf einen Baumangel oder mangelnden Unterhalt zurückzuführen sei, sondern dürfte ausschliesslich Folge der zweckentfremdeten Nutzung des Werkes bzw. Teilwerkes sein, wodurch das Kind den Unfall selbst zu vertreten hätte4.


Fussnoten:

1 STÖCKLI HUBERT/SIEGENTHALER THOMAS, Planerverträge, Verträge mit Architektinnen und Ingenieuren, 2. Aufl., Rz. 9.141.

2 STÖCKLI HUBERT/SIEGENTHALER THOMAS, Planerverträge, Verträge mit Architektinnen und Ingenieuren, 2. Aufl., Rz. 9.41.

3 BGer 1P.305/2004 vom 16. Urteil 2004, E. 3.1.

4 BGer 1P.305/2004 vom 16. Urteil 2004, E. 3.1.