14.08.2020 | tec21 | Laurindo Lietha

Neue Vergabekultur für leistungsorientierte Beschaffungsverfahren

Die revidierte Ordnung SIA 144 für «Ingenieur- und Architekturleistungsofferten» befindet sich in der Vernehmlassung. Fünf Interessensvertreter äussern ihre Einschätzung zum vorliegenden Entwurf.

Text: Laurindo Lietha

Der Schweizer Gesetzgeber hat entschieden: Beschaffungen sollen «vorteilhaft» und nicht nur «günstig» sein. Diese neue Vergabekultur ist im revidierten Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) abgebildet und soll mit dem Inkrafttreten ab dem 1. Januar 2021 Praxis werden. Der Grossteil der öffentlichen Beschaffung von intellektuellen Dienstleistungen werden nicht mit Wettbewerben oder Studienaufträgen, sondern mit leistungsorientierten Beschaffungsverfahren besorgt. Die Ordnung, die Verfahren dieser Art regelt – die SIA 144 – wurde während den letzten zwei Jahren durch die gleichnamige Kommission revidiert und liegt nun zur Vernehmlassung vor.

Qualitätssichernde Praxis
Der SIA bietet ein bewährtes Regelwerk für qualitätssichernde Beschaffungsverfahren. Die Ordnungen SIA 142 und SIA 143 sind Standard für die Beschaffungsformen Wettbewerb und Studienauftrag. Während diese Ordnungen breit akzeptiert sind und angewendet werden, wurden leistungsorientierte Beschaffungsformen selten gemäss der Ordnung SIA 144 abgewickelt. Woran liegt das?

Bernhard Berger, dipl. Bauingenieur ETH/SIA, Präsident der Schweizerischen Vereinigung Beratender Ingenieurunternehmungen (usic): Im Bereich der Wettbewerbe und der Studienaufträge hat der SIA den Standard gesetzt. Bei den klassischen Ausschreibungen, die viel zahlreicher und umfassender angewendet werden, ist dies nicht der Fall. Die grossen Bauherren verfügen über ihre eigenen Richtlinien. Zudem ist die «leistungsorientierte Beschaffungsform» die klassische Beschaffung, die in den Beschaffungsgesetzen im Detail geregelt ist – anders als Wettbewerbe und Studienaufträge. Entsprechend überrascht es nicht, dass wenig Raum für die Ordnung SIA 144 bestand. Es ist fraglich, ob sich dies mit der revidierten Ordnung ändern wird. Im besten Fall ist die SIA 144 eine gute Anregung für Bauherren, quasi eine Darstellung, wie eine «gute» Beschaffung für Planerleistungen durchgeführt werden soll.

Stefan Cadosch, dipl. Architekt ETH/SIA, Präsident des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA): Die leistungsorientierte Beschaffungsform ist in der Schweiz uneinheitlich geregelt. Es existieren mehrere, auf Einzelbedürfnisse adaptierte Formen, die auf Planerseite oft zu Verunsicherungen und Missverständnissen über die geforderten Leistungen und auch zu Mehraufwendungen führen. Da die bestehenden Instrumente in ihren Teilbereichen Akzeptanz gefunden haben, ist der Druck, einheitliche Vergaberichtlinien anzuwenden, nicht überall vorhanden. Aber gerade die Revision des Beschaffungsrechts hat sichtbar gemacht, wie wichtig eine Harmonisierung unter den verschiedenen Vergabestellen für effiziente und verlässliche Vergabeprozesse ist. Die SIA 144 leistet einen wichtigen Beitrag zu einheitlichen, klaren und qualitätsorientierten Vorgaben durch die beauftragenden Stellen.

Ludovica Molo, dipl. Architektin ETH, Präsidentin des Bundes Schweizer Architekten (BSA): Der SIA publiziert seit 1877 Grundlagen für das Wettbewerbswesen, die stetig weiterentwickelt worden sind, und die sich als qualitätssichernde Verfahren gut etabliert haben. Die Ordnung für Leistungsofferten SIA 144 ist erst 2013 publiziert worden und noch kaum bekannt. Es wurde wenig unternommen, um die Anwendung der Ordnung mit Publikationen in den Fachorganen und in Weiterbildungskursen zu fördern. Die neue Ordnung SIA 144 hat es zudem schwer, sich gegen den Wildwuchs von unterschiedlichen Beschaffungsverfahren der letzten Jahre zu behaupten.

Andreas Steiger, dipl. Bauingenieur ETH/SIA, Präsident der Kommission SIA 144: Die SIA 144, Ordnung für Ingenieur- und Architekturleistungsofferten, deckt eine breite Palette von Beschaffungen für Planungs- und Bauleitungsleistungen ab. Die Beschaffung derart unterschiedlicher Dienstleistungen erfordert bei der Ausgestaltung der Beschaffungsverfahren einen vergleichsweisen grossen Spielraum. Die Ordnungen SIA 142 und SIA 143 decken im Vergleich dazu relativ eng begrenzte Spezialverfahren ab. Für solche Verfahren sollen und können die vorgegebenen Spielregeln enger gefasst werden. Zusätzlich zur Ausgangslage, dass bei Erscheinen der Ordnung SIA 144 im Jahr 2013 viele Bauherren bereits eigene Hilfsmittel erarbeitet haben, bietet die Ordnung wohl etwas zu wenig Spielraum für Anwendungen für das breite Spektrum von Beschaffungen. Dies können die Ursachen dafür sein, dass die bisherige Ordnung SIA 144 nicht die gewünschte Aufnahme in der Praxis gefunden hat.

Erol Doguoglu, dipl. Architekt ETH/SIA, Kantonsbaumeister Thurgau, Mitglied Kommissionen SIA 142/143 und SIA 144: Projektwettbewerbe und Studienaufträge haben eine lange Tradition und man kann in der Anwendung auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Ich vermute, dass leistungsorientierte Verfahren einfach noch etwas Zeit brauchen, bis die Vorteile bekannt und die Verfahren breit abgestützt sind. Im Bereich der Architektur kann man dies bereits bei den sogenannten Planerwahlverfahren oder Thesenkonkurrenzen beobachten, welche für gewisse Fragestellungen sowohl bei Auslobern als auch Teilnehmenden mittlerweile eine hohe Akzeptanz geniessen.

Für einen nachhaltig gestalteten Lebensraum
«Unser Ziel ist ein zukunftsfähiger und nachhaltig gestalteter Lebensraum von hoher Qualität. Darauf richten wir alle unsere Anstrengungen aus.», lautet die Vision des SIA. Die revidierte Beschaffungsphilosophie der öffentlichen Auftraggeber gründet auf denselben Prinzipien: Öffentliche Mittel müssen ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltig eingesetzt werden, Qualität und Innovation sollen gefördert und gefordert werden. Dieser Kulturwandel sowie die Steigerung der nachfrageseitigen Akzeptanz der SIA 144 sind Motivation für die Revision der Ordnung. Wird der vorliegende Vernehmlassungsentwurf dieser Absicht gerecht?

Bernhard Berger: Der Vernehmlassungsentwurf ist eine gute Darstellung des neuen Beschaffungsrechts. Mit Hilfe der Ordnung SIA 144 kann ein echter Qualitätswettbewerb durchgeführt werden. Leider geht der Entwurf nicht wesentlich weiter als der Gesetzestext und die mittlerweile ebenfalls vorliegenden Leitfaden der Koordinationskonferenz der Bau- und Liegenschaftsorgane der öffentlichen Bauherren (KBOB). Wünschenswert wären insbesondere konkrete Vorschläge für die Umsetzung der neuen Instrumente, etwa die der neuen Zuschlagskriterien «Nachhaltigkeit», «Lebenszykluskosten», «Innovationsgehalt», «Verlässlichkeit des Preises» oder «Plausibilität des Angebots». Hier bleibt noch Raum für konkrete Vorschläge und Empfehlungen. Die SIA 144 kann somit nur ein weiterer Schritt zur neuen Vergabekultur sein; weitere Anstrengungen bleiben nötig!

Stefan Cadosch: Der Kulturwandel im revidierten öffentlichen Beschaffungsrecht, vom Preisdiktat zu qualitätsorientierten Vergabekriterien, ist im Vernehmlassungsentwurf der SIA 144 exemplarisch abgebildet. Ein klar umrissener Zugang zur Aufgabe sowie einheitliche, aussagekräftige Eignungs- und Zuschlagskriterien führen ¬ gepaart mit einer differenzierten Bewertung¬ zur Wahl der am besten geeigneten Planenden. Die Spielräume für unterschiedliche Leistungsaspekte sind gewährleistet, die Qualitätsaspekte können entsprechend gewichtet und so ein fairer Wettbewerb ermöglicht werden. Dies ist im Interesse aller am Ausschreibungsprozess beteiligten Akteure.

Ludovica Molo: Die neue Ordnung für Leistungsofferten SIA 144 macht sich für das Anliegen «Qualität vor Preis» stark und trägt dazu bei, den Wildwuchs an unterschiedlichen Verfahren einzudämmen. Der BSA unterstützt diese beiden Anliegen klar. Damit sich die Qualität durchsetzen kann, muss das Auswahlgremium zwingend fachkompetent und unabhängig sein, und zur qualitativen Bewertung der Angebote müssen geeignete Instrumente angewendet werden. Nur so sind die Voraussetzungen für einen fairen Wettbewerb und eine hochstehende Baukultur gegeben.

Andreas Steiger: Die in der Vernehmlassung stehende Ordnung SIA 144 gibt der Beschaffungsstelle den notwendigen Spielraum zur Gestaltung des auf die Aufgabe zugeschnittenen Beschaffungsverfahrens und betont deren Verantwortung für die Durchführung eines qualitativ einwandfreien Verfahrens. Zum Ausgleich des vorhandenen Spielraumes fordert die Ordnung, dass qualifizierte und integre Fachleute für das Verfahren verantwortlich zeichnen. Zur Stärkung der Qualitätskriterien betont die Ordnung die Bedeutung einer auf das Projekt zugeschnittenen Festlegung der Eignungs- und Zuschlagskriterien. Die Zuschlagskriterien sollen nicht zu breit, sondern fokussiert auf die Kernthemen und die Schlüsselpersonen festgelegt werden. Die Verschiebung bei der Benotung verstärkt die Qualitätskriterien. Die Kommission SIA 144 ist überzeugt, dass die revidierte Ordnung den angestrebten Kulturwandel unterstützen wird.

Erol Doguoglu: Die neue Ordnung SIA 144 legt auf jeden Fall die Basis für diesen Kulturwandel und setzt dafür einen normativen Rahmen. Letztlich liegt es aber an uns Anwendern, diese Grundlage auch zu nutzen und darauf gute Verfahren aufzubauen – genau wie bei der Anwendung der Ordnungen SIA 142/143.

Teilnahme an Vernehmlassung erwünscht
Eine gefestigte, breit akzeptierte Ordnung SIA 144 ist ein wichtiger Bestandteil des SIA-Ordnungswerk und des Beschaffungswesens. Eine rege Teilnahme an der Vernehmlassung hilft, unseren zukünftigen Lebensraum hochqualitativ und nachhaltig zu gestalten.

Stellungnahmen zum Vernehmlassungsentwurf SIA 144, Ordnung für Ingenieur- und Architekturleistungsofferten werden bis zum 3. September 2020 entgegengenommen. Die Dokumente zur Vernehmlassung sowie zusätzliche Hintergrundinformationen sind hier zu finden: www.sia.ch/vernehmlassungen.

 

Laurindo Lietha, Fachspezialist Ordnungen/Beschaffung SIA; laurindo.lietha(at)sia.ch