11.01.2013 | tec21 | Interview mit Saskia Sassen

Gefangen im Nationalismus

Die Hauptakteure auf dem Weg zu einer nachhaltigen Gesellschaft sind die Städte, ist Saskia Sassen, Soziologin und Jurymitglied «Umsicht 2013», überzeugt. Darüber hinaus plädiert sie für ein «Zurückdelegieren an die Biosphäre» – was aber nicht mit einer Rückkehr zur Natur zu verwechseln ist!

Sonja Lüthi: Saskia Sassen, wie sieht Ihre Nachhaltigkeitsstrategie aus? (1)

Saskia Sassen: Meiner Ansicht nach ist die Kernfrage der Nachhaltigkeit heute: Welche Optionen haben wir jenseits der etablierten Strategien? Recycling, Solarpaneele, begrünte Dächer etc. sind schön und gut, und wir müssen diese Massnahmen maximieren, aber offensichtlich wird das nicht genügen. Es braucht weit radikalere Ansätze.
Einen möglichen Zugang untersuche ich in einem aktuellen Projekt (2). Darin stelle ich die These auf, dass wir «an die Biosphäre zurückdelegieren » müssen, um unsere Städte ökologisch nachhaltig zu machen. Gemeint ist damit nicht der romantische Aufruf «Zurück zur Natur» – dafür ist es schon lange zu spät –, sondern die Verknüpfung wissenschaftlicher und technologischer Fähigkeiten mit den Fähigkeiten der Biosphäre, mit dem Ziel, die vom Menschen verursachten Brüche im biologischen Kreislauf zu beheben und gleichzeitig biologische Prozesse zu verbessern und zu beschleunigen. Zum Beispiel wissen wir inzwischen, dass das beste Mittel, um stark verschmutztes, toxisches Wasser zu reinigen, die Verwendung von Algen ist, wobei ihre natürlichen Fähigkeiten mithilfe eines Bioreaktors zusätzlich gesteigert werden können.

Wie sieht die Umsetzung dieser Strategie konkret im städtischen Umfeld aus?

Bei diesem Ansatz der «Rückdelegation an die Biosphäre» ist das städtische Umfeld in gewissem Sinn der Angelpunkt. Einerseits, weil hier die Interaktion mit der Biosphäre am komplexesten ist und insgesamt am meisten Schaden verursacht wird; andererseits, weil Städte in der Regel gleichzeitig auch der Ort sind, wo der Umweltschaden, der pro Kopf verursacht wird, vergleichsweise am kleinsten ist, insofern also bereits eine gewisse ökologische Effizienz gegeben ist. Diese Hebel können wir uns zunutze machen, indem wir die Bedürfnisse der Stadt (wieder) in Interaktion – nicht nur in ein Gleichgewicht! – mit den Ressourcen der Biosphäre bringen. Im Kern dieser Bestrebung steht der sehr grundsätzliche Anspruch (was nicht «einfach » bedeutet!), die Stadt viel stärker mit ihren regionalen Ressourcen zu verankern. Der Schlüssel dazu wird in der interdisziplinären Zusammenarbeit, von Planern, Naturund Sozialwissenschaftlern liegen – meiner Ansicht nach vollständiges Neuland mit viel Potenzial für Wissensgewinn und Praxis.

Viele guten Projekte und Konzepte für eine nachhaltigere Lebensweise scheitern an den institutionellen und politischen Grenzen. Auf welche Weise liesse sich grenzüberschreitende Zusammenarbeit fördern?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Eine grosse Lücke in den internationalen Verhandlungen zum Klimawandel ist die Tatsache, dass Städte darin nicht enthalten sind. Weder das Kyoto-Protokoll (KP) noch die UN-Konvention zum Klimawandel (United Nations Framework Convention on Climate Change, UNFCCC) enthalten spezifische Bestimmungen zu Aktionen auf Ebene der Stadt. Die UN-Klimakonferenz in Kopenhagen (COP15) hat diesbezüglich keine nennenswerten Fortschritte erzielt. Ein positiver Punkt war allenfalls die Ergänzung der Konferenz um die «Local Government Climate Roadmap», über die lokal verankerte Themen zumindest in einige der Debatten einflossen. Nicht mehr vorzuweisen hatte auch die im Juni 2012 abgehaltene UN-Klimakonferenz in Rio (Rio+20), deren einziger nennenswerter Beitrag darin bestand, die Rolle der Städte als Hauptakteure auf dem Weg zur Nachhaltigkeit anzuerkennen. Trotzdem, in ihrer formalen Ausgestaltung bleiben diese internationalen Konferenzen die Domäne von nationalen Regierungsoberhäuptern. Dadurch bleiben sie – wenig erstaunlich – in Nationalismen gefangen (das Recht auf Verschmutzung!) und Protektionismus, wodurch die grossen Themen, denen wir uns stellen müssen, im Kern erstickt werden.

Gemäss Ihrer Forschung spielen die «Global Cities» sowie Städte generell eine eminent wichtige Rolle auf dem internationalen Parkett. Könnten Sie erläutern, was deren Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung ist oder sein könnte?

Die Aktionen der Städte waren oft viel schneller zur Hand als die nationalen und staatlichen Standards und gingen überdies meist über diese hinaus.(3) Einige dieser örtlichen Initiativen führen bis in die 1980er- und -90er- Jahre zurück, als grössere Städte – namentlich Los Angeles oder Tokio – Saubere-Luft- Verordnungen einführten. Das geschah nicht, weil die Stadtregierungen besonders erleuchtet waren, sondern aus akuten Gründen der öffentlichen Gesundheit, die in ihrem direkten Verantwortungsbereich liegt. Des Weiteren ist das globale Netzwerk «Local Governments for Sustainability» (ICLE) seit 1990 mit konkreten regional verankerten Klimaaktionen aktiv, die noch vor dem KP in Kraft traten.(4) Und was die «Global Cities» spezifisch betrifft: Das Netzwerk der Global Cities ist die Kerninfrastruktur der globalen Wirtschaft. Diese Infrastruktur verläuft nicht von Staat zu Staat, sondern von Stadt zu Stadt! Wenn diese Städte ihre Nachhaltigkeitsstrategien weiterentwickeln und gesetzlich verankern, werden sie zum Modell für andere Städte. Und, wie bereits erwähnt: Städte sind der Ort, wo am meisten bewirkt werden kann.

Welche Bedeutung hat die Architektur dieser Städte?

Architektur und Städtebau sind oft der sichtbare Teil innovativer Praktiken und verdeutlichen den Passanten und Bewohnern somit die Möglichkeiten, die wir haben.

Was für Auswirkungen kann eine Auszeichnung für die zukunftsfähige Gestaltung des Lebensraums wie «Umsicht – Regards – Sguardi» idealerweise erlangen?

Die Umsicht-Auszeichnung kann dabei helfen, diese unterschiedlichen Themen anzusprechen und sichtbar zu machen und insbesondere auch innovative Projekte aufs Tapet zu bringen, die mehr oder weniger überall reproduziert werden könnten.

Was sind Ihre Erwartungen hinsichtlich der Umsicht-Auszeichnung?

Es ist ein weiteres Teil in einem Puzzle. Aber angesichts der Tatsache, dass es aus der Schweiz kommt, mit ihrer guten Tradition von Architektur und Ingenieurbau, ein bedeutendes Puzzlestück!

Sonja Lüthi, Kommunikation SIA

1 Das Interview wurde schriftlich und auf Englisch geführt.  
2 Saskia Sassen und Nathan Dotan: «Delegating, not returning, to the biosphere: How to use the multi-scalar and ecological properties of cities», in: Global Environmental Change, Volume 21 (3), S. 823–834, August 2011
3 Zur Rolle der Städte auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft vgl. z. B.: Saskia Sassen «Cities are at the center of our environmental future», S.A.P.I.E.N.S. [Online], 2.3 | 2009, http://sapiens.revues.org/948
4 Vgl.: www.iclei.org/

Zur Person

Saskia Sassen (geb. 1949) ist Professorin für Soziologie und Co-Leiterin des «Committee on Global Thought» an der Columbia University in New York. Mit ihrem Buch «The Global City» (Princeton University Press, 1991, vollständig überarbeitete Neuauflage 2001) prägte sie zu Beginn der 1990er-Jahre den Begriff «Global City», mit dem Städte bezeichnet werden, die als Teil eines transnationalen Städtesystems globale Steuerungsfunktionen übernehmen. Die niederländisch-amerikanische Soziologin gehört weltweit zu den bekanntesten Forschern im Bereich Globalisierung, Urbanität und Migration. Für ihre «leidenschaftliche Verfechtung einer urbanisierten Gesellschaft» wurde sie 2011 in die Liste der «Top Global Thinkers» aufgenommen. Sassen ist Mitglied der Jury «Umsicht – Regards – Sguardi 2013».

www.saskiasassen.com

 www.sia.ch/de/themen/umsicht/

Saskia Sassen. Foto: Archiv Saskia Sassen