19.02.2013 | neue zürcher zeitung nzz | Paul Schneeberger

Experimentierfeld für verdichtetes Bauen

Revision Raumplanungsgesetz

Verstädterung und bauliche Dichte sind in aller Munde. Zürich Affoltern hat beides durchlaufen. Zwei Experten zeigen auf, was sich von der Peripherie der grössten Stadt für die bauliche Weiterentwicklung des Landes folgern lässt.

Zurzeit ist die Schweiz ein Experimentierfeld für höhere bauliche Dichte – für jene Dichte, die von Befürwortern und Gegnern der Revision des Raumplanungsgesetzes formelhaft angerufen wird, wenn die konkreten Fragen auftauchen: Wie wollen wir das Bevölkerungswachstum baulich auffangen? Wie soll der Landverschleiss eingedämmt werden? Wir haben zwei Fachleute nach Zürich Affoltern gebeten, in ein Quartier, dessen Einwohnerzahl im letzten Jahrzehnt um ein Drittel auf 24 000 gewachsen ist, ohne dass dafür ein grosser Siedlungsteppich ausgerollt worden wäre: Hans-Georg Bächtold war Kantonsplaner in Basel-Landschaft, Pierre Strittmatter übte dieselbe Funktion in Appenzell Ausserrhoden aus.

Grundstücke besser vernetzen

Bächtold ist als Geschäftsführer des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA) im Abstimmungskampf als Befürworter engagiert, Strittmatter beobachtet die politische Diskussion als Staatsbürger. Wie wir uns vom S-Bahnhof in die nahen Neubaugebiete aufmachen, könnten die Einschätzungen der hier umgesetzten hohen baulichen Ausnützung kontroverser nicht ausfallen: Bächtold spricht von guter innerer Entwicklung, die mit den sieben grösseren und einigen kleineren Überbauungen von bis zu neun Geschossen hier realisiert worden sei. Und alles angebunden an die S-Bahn, mit der man alle 30 Minuten innert 15 Minuten das Stadtzentrum von Zürich erreicht.

Strittmatter sieht es anders: Man habe hier baulich so «dreinfahren» können, weil es sich um ein peripheres städtisches Gebiet handle, in dem sich wenig Widerstand geregt habe. Betroffen von Strassen-, Flugzeug- und Bahnlärm, seien die Überbauungen schlecht vernetzt und die Erdgeschosse in vielen Fällen «tot», da ein Bezug zwischen Bauten und Umfeld fehle. Bächtold kontert: Lärm lasse sich mit kluger Architektur abfangen, und geschäftlich genutzte Erdgeschosse seien in Wohnüberbauungen ein theoretisches Konzept.

Urbane Dichte verschiedener Funktionen, wie sie städtebaulich immer wieder hochgehalten werde, schaffe auch Reibungsflächen. «Viele Menschen schätzen es, wenn sie am Abend nach Hause kommen und einfach Ruhe haben», sagt er. Einverstanden mit Strittmatter ist Bächtold, was die Verbindungen zwischen den neuen Überbauungen und darüber hinaus angeht. «Hier bestehen Defizite.» Tatsächlich ist der Weg vom Bahnhof zur «Ce-Ce»-Überbauung mit drei grossen Riegeln voller günstiger Mietwohnungen ein unübersichtliches Zickzack. Bächtold lobt die Anordnung der Bauten und die grossen Fenster. Just, als die Experten orakeln, wie es mit der Sonneneinstrahlung in der zweiten Reihe der Bauten im Winter aussehe, schält sich die wärmende Kugel in überraschender Höhe aus dem Nebel und besonnt auch das Parterre.

Zentrale Orte schaffen

Auch Strittmatter, der betont, er lehne bauliche Dichte um der baulichen Dichte und des blossen Profits wegen ab, findet lobende Worte. Hier sei ein gutes Verhältnis von Preis und Leistung erreicht worden. Kritik übt er an der alten Fabrikhalle, die unter anderem mit einem Laden und einem Restaurant zentrale Funktionen wahrnehmen soll, stattdessen aber vor sich hin träumt. «Wir müssen zentrale Orte bewusster schaffen», sagt er. «Oder wenn wir Umnutzungen angehen, diese besser erschliessen», ergänzt Bächtold. Tatsächlich: Auf der anderen Seite der breiten Ausfallstrasse befindet sich eine ältere Wohnsiedlung. Nur, wie man von hier nach dort gelangen soll, ist schleierhaft. Wäre das klar, stünde die Halle nicht mehr am Rand eines Wohnkomplexes, sondern inmitten mehrerer Siedlungen.

«Im Grunde können wir uns an solch gut erschlossenen und stadtnahen Orten gar keine schlechte Architektur leisten», sagt Hans-Georg Bächtold. «Sonst ziehen die Leute einfach weiter hinaus ins Grüne, nach Rafz oder anderswohin.» «Ach wo, in Zürich lässt sich heute alles vermieten», hält Pierre Strittmatter entgegen. Ob so oder anders: Zeigt nicht gerade die Feststellung, dass das Stadtquartier Affoltern und das kilometermässig beträchtlich fernere Rafz einander als Alternativen gegenübergestellt werden können, dass planerisch etwas nicht stimmt? «Natürlich ist der Verkehr der heimliche Raumplaner», sagen Strittmatter und Bächtold wie aus einem Munde.

«Auch hier wird zu wenig vernetzt gedacht», sagt Bächtold. Im Baselbiet habe er sich als Kantonsplaner mit den Folgen der weitläufigen Ausdehnung der Agglomeration bis in die Täler hinein konfrontiert gesehen. Die Konsequenz daraus seien explodierende Kosten für den öffentlichen Verkehr gewesen. Aus dieser Erfahrung heraus hat man dann dort einen Weg beschritten, den Bächtold als Königsweg für die Schweiz sieht. Gezielte bauliche Verdichtung an bereits gut erschlossenen Standorten: «Die S-Bahnen sind nun einmal da, jetzt müssen wir sehen, dass wir die Flächen um ihre Haltestellen herum entwickeln. Das Verdichten ist nur ein Instrument, um Gebiete innen zu entwickeln. Wichtig ist hohe Bau- und Lebensqualität.»

Strittmatter pflichtet dem bei: «Aber nur dort, nicht weiter draussen.» Wir gehen weiter, dorthin, wo baulich eine der klarsten Stadtgrenzen der Schweiz geschaffen wurde. Aus dem Eingangsbereich der hufeisenförmig angelegten Siedlung «Aspholz Nord» blicken wir durch das lärmdämmende Glas über die Autobahn und verschneite Felder hinweg auf einen Hügel. So sehr klare Siedlungsgrenzen anzustreben seien, so hart falle diese hier aus, sagen Strittmatter und Bächtold unisono. Sie könnten sich einen weicheren Übergang zwischen Bauten und offenem Land vorstellen – zum Beispiel mit landschaftsgestalterischen Massnahmen, zum Beispiel dem Pflanzen von Bäumen.

Fragmentiertes Eigentum

Nächste Station ist die Siedlung «Klee», die als eine von zweien aus Affoltern Eingang gefunden hat in eine Dokumentation, in der die Stadt Zürich ihres Erachtens gelungene Beispiele verdichteten Bauens präsentiert. Sieben Geschosse gruppieren sich um einen einzigen grossen, begrünten und in drei Kammern gegliederten Innenhof. Hans-Georg Bächtold ist begeistert, Pierre Strittmatter skeptisch. Bächtold findet Wohnqualität und Ausnützung optimal, Strittmatter weist auf ein grundsätzliches Problem grosser Siedlungen hin: auf den ökologischen Ausgleich, der eigentlich drei ausgewachsene Bäume pro Person bedingen würde. Uneins sind die beiden Fachleute, ob Wohnungen heute eher auf bestimmte Lebensphasen auszulegen sind oder auf ein ganzes Leben. Bächtold macht einen Trend hin zum Wohnen auf Zeit aus – je nach Lebensabschnitt an einem anderen Ort, einen solchen vermag Strittmatter nicht zu erkennen. Dementsprechend bleibt die Frage offen, ob solch modern verdichtete Formen des Wohnens die Fluktuation der Bewohner erhöhen oder nicht.

Einig sind sich die beiden darin, dass den in allen Siedlungen erkennbaren Konzepten, Orte des Austauschs zu schaffen, wenig Erfolg beschieden ist. Statt solcher vermeintlicher Dorfplätze sollten wirklich zentrale Orte in grösserem Rahmen geschaffen werden. Bächtold könnte sich dort auch Arbeits-Infrastrukturen für Personen vorstellen, die Teilzeit zu Hause arbeiten, das aber nicht isoliert in der Wohnung tun wollen. Was zu einem einladenden zentralen Ort aufgewertet werden könnte, sehen wir zum Ende unseres Rundgangs: der Zehntenhausplatz an der Hauptstrasse nahe dem S-Bahnhof.

Hier, finden Bächtold wie Strittmatter, lohnte sich kommunales Engagement beispielsweise in Form einer Testplanung, um aus einer unwirtlichen Verkehrsdrehscheibe einen gewinnenden Ort zu machen. Sie sähen gute Chancen, dass sich die betroffenen Grundeigentümer für eine daraus resultierende bauliche Weiterentwicklung mit ins Boot holen liessen. Freilich, so weisen sie auf eine Entwicklung der letzten Jahre hin, werde auch solches immer komplexer, weil das Grundeigentum immer stärker fragmentiert sei. Sie macht Entwicklung nach innen im bereits bebauten Gebiet noch anspruchsvoller, als sie ohnehin schon ist.

Diese Erkenntnis macht auch deutlich, weshalb die grösste Stadt der Schweiz gerade hier und nicht anderswo in diesem Tempo gewachsen ist. Zürich Affoltern ist ein Kompromiss, wie die Revision des Raumplanungsgesetzes auch. Bächtold und Strittmatter wollen ihr zustimmen, weil sie Verbindlichkeit schafft, Minimalstandards für die Siedlungsentwicklung vorgibt und Grundeigentümer an ihre Verantwortung erinnert, wie sie sagen. Heute wie dannzumal nicht im Gesetz steht das, was sich ungeachtet ihrer Differenzen in dieser Frage als grösster gemeinsamer Nenner beider Experten formulieren liesse: Bauliche Verdichtung ist kein Selbstzweck, kein Ziel, sondern ein Mittel. Oder mit anderen Worten: Erst überlegen, ein Konzept schaffen, dann planen und bauen. Und: vernetzt denken.

Paul Schneeberger

 

nzz.ch, 19.02.2013, Experimentierfeld für verdichtetes Bauen, Paul Schneeberger