05.06.2011 | sonntagszeitung | Maria Lezzi (Interview: Philipp Löpfe)

«Es gibt bei uns Einfamilienhaus-Brachen»

Maria Lezzi, Direktorin des Bundesamts für Raumentwicklung, über die 10-Millionen-Schweiz, vorhandene Landreserven und die Idee, den Boden stärker zu besteuern

Die Schweiz wächst um 70 000 Menschen pro Jahr. Stösst da die Raumplanung an Grenzen?

Wir beobachten diese Entwicklung genau, aber die Zuwanderung ist nur die eine Seite der Medaille. Ebenso wichtig ist die Tatsache, dass die Bewohner der Schweiz im Durchschnitt immer mehr Fläche verbrauchen.

Die Fläche, die in der Schweiz genutzt werden kann, beträgt rund 18 000 Quadratkilometer. Wie lange reicht das noch?

Das ist ein politischer Entscheid. Die Schweiz verfügt nach wie vor über genügend Baulandreserven.

Wenn wir vom aktuellen Flächenverbrauch pro Kopf ausgehen und die heute unüberbauten Bauzonen richtig genutzt würden, hätten theoretisch noch zwei Millionen Menschen mehr Platz.

Das Zauberwort der Raumplaner heisst «verdichtetes Bauen». Was heisst das konkret?

Es geht vor allem um eine Umnutzung von Flächen, von Industriebrachen beispielsweise oder von Arealen, für welche die Bahn keine Verwendung mehr hat. Wenn wir allein diese Flächen neu nutzen, schaffen wir Platz für die Bevölkerung in der Grössenordnung von Genf. Zudem gibt es in den bestehenden Siedlungen viele Lücken, die man sinnvoll schliessen kann. Schliesslich gibt es noch Reserven bei den bestehenden Häusern. Man kann beispielsweise ein zweistöckiges Haus in ein vierstöckiges ausbauen.

Leider sind die Baulandreserven am falschen Ort.

Grosse Teile dieser Baulandreserven sind tatsächlich in ländlichen Gebieten, die schlecht erschlossen sind und wo eine schwache Nachfrage besteht.

Gemeinden und Kantone entscheiden nach wie vor, wo Baulandreserven geschaffen werden. Sie haben nichts zu sagen.

Fallweise sagen wir schon etwas. Wir schauen heute viel genauer hin, ob die Raumplanungsgesetze auch eingehalten werden. Nötigenfalls können wir derartige Einzonungsentscheide gerichtlich überprüfen lassen.

Und wenn sich eine Gemeinde nicht an die Vorgaben hält?

In der aktuellen Teilrevision des Raumplanungsgesetzes, die derzeit im Parlament ist, sind Sanktionen vorgesehen. So sollen während einer Frist von fünf Jahren ab Inkrafttreten des neuen Rechts Neueinzonungen nur noch bei flächengleichen Auszonungen zulässig sein. Sollten die Kantone die Bundesvorgaben nach Ablauf dieser Frist nicht korrekt umgesetzt haben, wäre es sogar verboten, neue Bauzonen auszuscheiden, so lange, bis der Kanton seine «Hausaufgaben» gemacht hat.

Das nützt?

Ja, aber noch wirksamer ist es, wenn wir neue Anreize schaffen.

Was für Anreize?

Der Bund hilft, im Rahmen der Agglomerationsprogramme Verkehrsprojekte wie Tramausbauten oder Umfahrungsstrassen zu finanzieren. Diese Gelder werden nur gesprochen, wenn konkrete Projekte vorliegen, die mit der Siedlungsentwicklung abgestimmt sind, gemeinsame Vorstellungen bezüglich der Verkehrs- und Siedlungsentwicklung über die Gemeinde- oder gar Kantonsgrenzen hinaus vorhanden sind und Massnahmen getroffen werden, welche die Einhaltung der Richtpläne garantieren. Wir haben damit 2007 angefangen. Bisher haben wir rund vier Milliarden Franken ausgegeben. Das hat unheimlich viel ausgelöst.

Was tun Sie nebst Geld verteilen?

Es gibt Überlegungen, die Ressource Boden verstärkt zu besteuern, im Zusammenhang mit der Ökologisierung des Steuersystems. Abklärungen in diese Richtung finde ich absolut sinnvoll.

Müssen wir, wenn wir sorgfältiger mit dem Kulturland umgehen wollen, 
nicht gewisse Dinge verbieten, den Bau von frei stehenden Einfamilienhäusern beispielsweise?

Ein Verbot durch den Bund wäre unsinnig. Diese Entwicklung muss ebenfalls mit Anreizen gesteuert werden. Im Moment haben wir das Problem, dass die bewilligten Ausnützungsziffern gar nicht ausgeschöpft werden.

Was tun Sie dagegen?

Das in Revision befindliche Raumplanungsgesetz sieht vor, dass die Kantone Massnahmen ergreifen müssen. Das können Landzusammenlegungen sein oder Auflagen, dass eingezontes Land innert zehn Jahren bebaut werden muss.

In der Schweiz gibt es rund 900 000 Einfamilienhäuser. Ist es sinnvoll, alle mit Staatsgeldern energetisch zu sanieren, auch wenn sie an schlecht erschlossenen Orten stehen?

Selbst wenn es perfekt isoliert ist, braucht ein schlecht erschlossenes Haus viel sogenannte graue, indirekte Energie. 

Eine Studie der CS hat gezeigt, dass die Nachfrage nach solchen Objekten nachlässt.

Es gibt in der Schweiz nicht nur Industriebrachen, sondern auch «Einfamilienhaus-Brachen», wo sich Sanierungen nicht lohnen.

Es gibt auch die Vorstellung, dass sich die Schweiz in einen grossen City-Staat verwandelt. 

Die Schweiz hat mehrere Zentren: Genf, Zürich, Basel und Bern. Wir sind arbeitsteilig organisiert und haben kurze Wege. Es ist gerade die grosse Qualität der Schweiz, dass wir nicht eine einzige Stadt sind, sondern beides haben: Stadt und Land. Unserer Herausforderung besteht darin, die Attraktivität diesen kleinräumigen Mix zu erhalten.

Ist dieser Mix noch mit einer Neun- oder gar einer Zehn-Millionen-Schweiz zu erhalten? 

Wenn das gesellschaftspolitisch erwünscht ist, ja.

 

Zuerst publiziert in der SonntagsZeitung vom 5. Juni 2011.