20.08.2018 | sia online | Urs Wiederkehr
Das Potential von gegenseitigem Lernen wird unterschätztLehrer oder Schüler? Wer lernt von wem? Eine überflüssige Frage. Oder? Der Schüler lernt vom Lehrer. Mindestens theoretisch. Erfahrungen haben dem Autor gezeigt, dass heute eine weitere wichtige Lehrkonstellation zu beobachten ist: Das gegenseitige Lernen unter den Kursteilnehmenden. Was mich, besonders in den letzten Jahren, immer wieder verblüffte, ist das Erscheinen einer «neuen» Lern-Beziehung: Lernenden profitieren in grossem Masse gegenseitig voneinander. Dabei gibt es Mittelpunktpersonen, welche dank besonderem Charisma oder speziellen Erfahrungen, von den anderen Teilnehmenden als stark wissensvermittelnd erfahren werden. Auch andere werden als Vorbilder geschätzt. Zum Beispiel, weil sie nie die Ruhe verlieren oder weil sie sich von einer tieferen in eine höhere Position hinaufgearbeitet haben. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Diese Bewegung ist nicht zu verwechseln mit den von den Schulorganisationen empfohlen Lerngruppen, wo in kleinen Gruppen der im Unterricht behandelte Stoff gemeinsam aufgearbeitet wird. Diese - bisher nicht geförderte - Vermittlungsform von Wissen kann von den Schulungsanbietern ignoriert oder gefördert werden. Auch für die Kursteilnehmenden stellt sich die ketzerische Frage, wie weit sie überhaupt noch Seminare benötigen und warum sie die Wissensvermittlung nicht selbst untereinander organisieren. Auf Nachfragen, bei welchen Themen ein gegenseitiges Lernen am besten funktioniert, wurden oft die genannt, bei welchen eine endgültige wissenschaftliche Basis fehlt oder sich noch im Aufbau befindet. In der Regel war dem Gebenden nicht bewusst, dass sein Wissen von anderen so geschätzt wurde. Oft handelte es sich um unspektakuläre Fälle. Der Gebende hatte für eine bestimmte Praxissituation einen passenden Handlungstipp, der rasch umsetzbar war. Ebenfalls genannt wurden Vorbildfunktionen, welche unter dem Sammelbegriff Sozialkompetenz zusammengefasst werden können. Dem Lernenden fiel eine Verhaltensweise auf, welche im imponierte und die er auch praktizieren wollte - z.B. überzeugteres Auftreten gegenüber Dritten. Bekanntlich ist das Thema Sozialkompetenz schwierig zu vermitteln und noch anspruchsvoller zu prüfen. Das Ausrichten an einem gelungenen Fall, kann da sehr wirkungsvoll sein. In einer Lehrveranstaltung stellt sich immer die Frage, ob die Dozierenden eine Vermittlungsrolle einnehmen und im Unterricht Raum für solche Diskussionen bieten sollen. Meine Erfahrungen zeigen, dass nicht alles automatisch im Unterricht abläuft. Selbstverständlich kann ein Moderator im Unterricht das ganze fördern und bei offensichtlichen Fehlbeurteilungen korrigierend einwirken. Oft erfolgte der Austausch aber ausserhalb der organisierten Wissensvermittlung, z. B. in der Pause, beim Mittagessen oder bei einer Betriebsbesichtigung. Gegenseitiges Lernen ist nicht planbar |