31.05.2018 | sia online | Claudia Schwalfenberg

Biennale Architettura 2018: Wohnen szenografisch und soziologisch

Die Schweiz präsentierte bei der Eröffnung der Architekturbiennale in Venedig unterschiedliche Zugänge zum Thema Wohnen: über Fotos leerer, bezugsbereiter Wohnungen einerseits, über eine Befragung andererseits.

Bereits bevor der Schweizer Pavillon an der diesjährigen Biennale in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, war die Begeisterung gross, auch bei der Vorstandsdelegation des SIA. Die gebaute House Tour, die Fotos von den Homepages Schweizer Architekten in eine begehbare Installation mit unterschiedlichen Massstäben übersetzt, überzeugte durch ihre witzige Verfremdung standardisierter Wohninterieurs. SIA-Präsident Stefan Cadosch kommentierte bei der Eröffnung: «Das ist erfrischend und transportiert auf charmante Art einige unterschwellige Botschaften – unter anderem mit der Frage, ob die vielzitierte Vielschichtigkeit der Schweizer Architektur am Ende gar nicht so gross ist.» Vorstandsmitglied Simone Tocchetti ergänzte: «Das ist echt schweizerisch, sehr raffiniert. Alles, wogegen wir kämpfen, ist da drin.»


Hintergründiger Humor
Auch die übrigen Mitglieder der Vorstandsdelegation zeigten sich angetan. Daniele Biaggi und Daniel Meyer erfreute, dass die verzerrten Massstäbe des Pavillons auch Kindern Spass machen. Obwohl die Installation sehr zugängig ist, empfehle es sich, zwei- bis dreimal in den Pavillon zu gehen, wie Urs Rieder betonte: «Das ist surreal. Die Differenzierung erfolgt nur über den Massstab.» Ariane Widmer ergänzte: «Am Ende ist der Pavillon undurchdringbar. Dort erschliesst sich, dass im Biennalemotto Freespace auch der Appell steckt: Befreit den Raum!» Anna Suter brachte den Gesamteindruck auf den Punkt: «Der Schweizer Pavillon hinterfragt den aktuellen Wohnungsbau auf eine liebevolle und doch kritische Art.»

Eine Roadshow von Pro Helvetia und SIA hatte im Vorfeld der Biennale zu «Diskussion, Reflexion und Weiterentwicklung des Projekts» ermutigt. Dass der preisgekrönte Beitrag aus erstmals aus einem Wettbewerb hervorging (vgl. TEC21, H. 1-2-3 2018, S. 37.) und mit Alessandro Bosshard, Li Tavor, Matthew van der Ploeg und Ani Vihervaara einem jungen, multinationalen Architektenteam zu verdanken ist, machte die Freude über den gelungenen Auftritt perfekt.

Am Rande der Eröffnung des Schweizer Pavillons kam Bundespräsident Alain Berset auf Stefan Cadosch zu. Er dankte ihm für die Initiative des SIA, Baukultur als neues Politikfeld zu etablieren, die auch den Boden für die Erklärung von Davos bereitete. Berset sagte, dass er sich weiterhin für den internationalen Dialog engagieren werde und dabei wie bisher auf den SIA zähle. Die Kulturbotschaft des Bundes wolle er in kleinen Schritten ausbauen, bat aber zugleich um Geduld.

Komplementär zu Fragen des Wohninterieurs und normierter Gestaltung, die der Schweizer Pavillon aufwarf, näherte sich das Bundesamt für Kultur dem Wohnen an der Biennale von einer ganz anderen Seite. Den Ausgangspunkt bildete hier eine Befragung von 1.000 in der Schweiz lebenden Personen. Die Studie zur Baukultur im Alltag ergab, dass 72% der Befragten eine klassische Einfamilienhaussiedlung gegenüber einer (eher verdichteten) «zeitgenössischen Mehrfamilienhaussiedlung» bzw. «zeitgenössischen Wohnsiedlung» bevorzugen. Gut die Hälfte der Befragten gab ausserdem an, nicht über genügend Partizipationsmöglichkeiten zu verfügen.


Der Gesellschaft eine Stube schaffen
An einem Podium mit Bundespräsident Berset am 26. Mai im Palazzo Trevisan veranschaulichte der Soziologe Felix Keller, wie wichtig es ist, solche Zahlen zu kontextualisieren. Der Mythos des Einfamilienhauses sei Ausdruck einer Sehnsucht nach Autonomie in wirtschaftlich und gesellschaftlich unsicheren Zeiten. Die Untersuchung zeige jedoch, wie nah die Bedürfnisse der Befragten am Manifest zur Baukultur liegen, das der SIA 2011 herausgegeben hat. Die «saubere, gepflegte und ruhige Umgebung», die für die Befragten das Wichtigste ist, stimme mit dem im Manifest formulierten Ideal überein, der Gesellschaft eine «Stube» zu schaffen. Keller plädierte deshalb dafür, an bestehende kollektive Bilder anzuknüpfen und sie weiterzuentwickeln. Die «schon fast rituelle Beschimpfung der Schweizer Bevölkerung durch ihre Experten» helfe dagegen nicht, denn «Verändern beginnt auch mit Verstehen». 
Dr. Claudia Schwalfenberg, Verantwortliche Baukultur SIA claudia.schwalfenberg(at)sia.ch


Weitere Informationen:
Schweizer Pavillon und Salon Suisse:
https://prohelvetia.ch/de/2018/05/biennale-architettura-2018/
Umfrage und Essay von Felix Keller:
https://www.bak.admin.ch/bak/de/home/kulturerbe/zeitgenoessische-baukultur/umfrage-baukultur.html

Foto: Rachele Maistrello für Pro Helvetia