01.07.2013 | sia online | Sonja Lüthi

Haben wir genug?

Oder: «Wir haben genug!»? Suffizienz muss thematisiert werden und zwar in erster Linie als politisches Projekt, so ein Fazit der Tagung Qualität durch Mässigung? Suffizienz im bebauten Raum. Allerdings braucht es dafür einen neuen Begriff, der weniger zu wertenden Urteilen einlädt.

«Verzicht» sei der Tod der 2000-Watt-Gesellschaft, soll Roland Stulz, einer der geistigen Väter der 2000-Watt-Gesellschaft einmal gesagt haben. Diese realistische These mag mit ein Grund sein, weshalb das Thema Suffizienz (massvoll) – im Unterschied zu den Pendants Effizienz (besser) und Konsistenz (anders) – in der politischen Diskussion bis anhin weitgehend ausgeklammert wird. Zwar stellt Suffizienz (lat. sufficere: ausreichen, begnügen) im Grunde die Frage nach dem richtigen Mass, doch wird das Wort im Alltag oft mit dem französischen «ça suffit!» (es reicht!) assoziiert und damit mit Bevormundung und Verzicht. Um eine möglichst objektive Auseinandersetzung mit dem Thema zu lancieren, luden der SIA, die Stadt Zürich und EnergieSchweiz am 18. Juni 2013 in die alte Zürcher Sihlpapierfabrik zu einer Tagung ein, bei der der Fokus auf konkreten Beispielen im bebauten Raum lag. Der Titel der Tagung – Qualität durch Mässigung? Suffizienz im bebauten Raum – wurde bewusst als Frage in den Raum gesetzt. Denn Suffizienz sollte nicht von vornherein als unumstösslicher Bestandteil des Lösungswegs erörtert werden, sondern als «Frage, die gestellt werden muss».

Brot für Brüder?

Wie diese Frage aber zu stellen ist, erwies sich schon bald als eine der grössten Herausforderungen. Denn nicht nur wird das Wort Suffizienz oft miss- oder gar nicht verstanden, überdies scheint jeder etwas anderes darunter zu verstehen bzw. hineinzuinterpretieren. Res Keller, Mitinitiant der Genossenschaft Kalkbreite, ersetzte das Wort in seinem Referat denn auch stillschweigend durch «leichter leben»: Es gehe nicht um Eingrenzung, sondern darum, neue lustvolle Formen von Leben zu erkennen. Ganz anders die Meinungen von Rudolf Dieterle, Direktor ASTRA, und Thomas Held, Soziologie und ehemaliger Direktor von Avenir Suisse: Während Dieterle das Wort Suffizienz einen «Verzweiflungsakt» nennt, ist es für Held nichts weiter als ein anderes Wort für Rationierung. In diesem Spannungsfeld von «Lust und Verzicht und wenn Verzicht, kann dieser lustvoll sein?» bewegte sich ein Grossteil der Diskussionen.

Dass es beides braucht, veranschaulichte Peter Schneider, Psychoanalytiker und Satiriker, anhand der überzeichneten Gegenfrage: «Statt Kuchen für alle – Brot für Brüder?», auf die er gleich selber antwortete: «Nicht jeder mag Kuchen, manche mögen lieber Brot». Für den Psychoanalytiker steht fest, dass sowohl die Mässigung wie auch der Exzess «kulturbildend sind» und beides jeder Gesellschaft innewohnt, was auch gut sei. Denn: Eine Stadt von Gleichgesinnten sei ein Widerspruch in sich und auch unter dem Aspekt der Suffizienz falsch. Doch was ist mit denjenigen die weder Kuchen noch Brot haben? Die Frage des globalen Gleichgewichts wurde während der ganzen Tagung nur gestreift – und hätte wohl auch zu weit geführt. Angesprochen wurde beispielsweise der Club-of-Rome-Bericht Die Grenzen des Wachstums von 1972, dessen Argumentation vor allem auf der Endlichkeit der Rohstoffe basiert. Dass diese uns auch vierzig Jahre später noch nicht ausgegangen sind, führte Ute Schneidewind, Präsident des Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, auf einen essentiellen Denkfehler im Bericht zurück: Nicht die Verknappung der Rohstoffe sei das Problem, sondern dass unser Ökosystem nicht so viel Ressourcenverbrauch aufnehmen kann.

Der realistische Weg

Dass es neben den politisch akzeptierten Massnahmen Effizienz und Konsistenz auch Suffizienz braucht, darin waren sich weitgehend alle – mit Ausnahme von Thomas Held – einig. Weshalb, brachte Katrin Pfäffli, Architektin und Co-Autorin der Studie Suffizienzpfad Energie, anhand des Stadtzürcher Siedlungsportfolios anschaulich auf den Punkt. Alleine mit Effizienz und Konsistenz-Massnahmen lassen sich laut der Studie die Treibhausgasemissionen von derzeit fast 2500 kg/Person zwar um rund 2.5 mal reduzieren, womit der Zielwert nach SIA-Effizienzpfad Energie nahezu erreicht würde. Nur, zu welchem Preis? Ein Viertel der städtischen Siedlungen steht unter Denkmalschutz. Diese müssten alle mit Wärmedämmung eingepackt werden. Die Mehrkosten für diesen Modernisierungsschub müssten zu einem grossen Teil auf die Mieter abgewälzt werden, womit die Stadt ihrem sozialen Auftrag nicht mehr gerecht werden könnte. Die Kombination der drei Pfeiler Effizienz, Konsistenz und Suffizienz sei daher ein weitaus entspannterer Weg und somit auch der realistische Weg, so Pfäfflis Fazit.

Ein politisches Projekt

Doch wie gelangen die Leute auf den Suffizienzpfad? Wie wenig die Leute bereit sind, freiwillig zu verzichten (vor allem, wenn es um Wohnfläche geht!), zeigt sich beispielsweise anschaulich in der autofreien Siedlung Burgunder in Bern: Obwohl die Bewohnerschaft hier in Sachen Umweltbewusstsein als «sensibilisiert» gelten kann, beträgt der durchschnittliche Wohnflächenanteil laut dem verantwortlichen Architekt Hans-Peter Bürgi in der Siedlung heute 63m2 und liegt somit weit über dem Schweizer Durchschnitt von rund 48m2. Für die grosse Mehrheit stand deshalb fest, dass Suffizienz nicht nur ein gesellschaftliches Projekt sein kann, sondern vor allem ein politisches Projekt sein muss.

In Bezug auf die zu schaffenden Steuerungsmittel und/oder Anreize waren die Meinungen dann allerdings gespalten. «Wenn Suffizienzbefürworter ‹Anreiz› sagen, meinen sie in der Regel ‹Verbot›», setzte sich Marco Salvi, Ökonom bei Avenir Suisse, von der Mehrheitsmeinung ab. Gemeinsam mit Held vertrat er die Ansicht, dass jegliche Regulierung das – durch den Markt geschaffene – Gleichgewicht zerstöre. Als Beispiel führte Salvi den «subventionierten GA-Besitzer auf Spritztour durch die Schweiz» an und Held die subventionierten Wohnungen an bester Lage, die verdichtetes Bauen für den Investor nicht mehr rentabel machen. Im Unterschied zu Held, der wenig überraschend für Kostenwahrheit plädierte, räumte Salvi aber ein, dass der Markt alleine es nicht richten werde. Statt auferlegten Einschränkungen sprach er sich für Besteuerungen aus: So könne man wählen, ob man die Steuer oder Abgabe zahlen will bzw. kann oder sein Verhalten ändert.

Auch wenn Kostenwahrheit als solche von niemandem infrage gestellt wurde, wurde doch auch auf deren Kehrseite hingewiesen. Man solle sich nicht vormachen, dass wirkliche Kostenwahrheit möglich sei, erklärte beispielsweise Marcel Hänggi, Historiker und Autor – man denke etwa an ein Kernkraftwerk. Schliesst man sich Dieterles Ansicht an, würde sie überdies nicht zu weniger Verkehr führen, sondern die Armen noch ärmer machen. Denn laut dem Direktor des ASTRA wird der Verkehr eine Konstante bleiben, schon nur aus dem Grund, dass wohnen und arbeiten heute ganz anderen Zeithorizonten unterliegen würden.

Die Frage erlauben

Potenzial, aber auch grossen Handlungsbedarf, orteten die anwesenden Planer und Planerinnen, bei den Anreizen im bebauten Raum, die von niemandem als «Verbote» und im Idealfall auch nicht als Verzicht, sondern als Mehrwert wahrgenommen würden: Ob die Küche auf der Dachterrasse, die von den Bewohnern der Siedlung Kalkbreite für private Grosseinladungen dazu gemietet werden kann, eine Quartierplanung «der kurzen Wege» mit Plätzen, die zum Verweilen einladen, oder auch ganz einfach das leidenschaftlich von Balz Halter propagierte Smart Home – seien es allesamt Massnahmen, die es uns erleichtern, suffizient zu leben und im Idealfall sogar einen Mehrwert bringen.

Als grössten Stolperstein auf dem Weg zur Ermöglichung von Suffizienz wurde insbesondere die Tabuisierung des Themas genannt. Fragen danach, ob es überhaupt so viel von etwas braucht, würden in der Regel mit Hinweis aufs Budget, «wo das so vorgesehen ist», abgeklemmt, kritisierte Rahel Gessler vom Umwelt- und Gesundheitsschutz der Stadt Zürich.

Kritisiert wurde in den abschliessenden Plenumsdiskussionen zudem die mangelnde Risikobereitschaft seitens Bauherrschaften und auch Planern – zum Beispiel, einen Raum mit einer Temperatur von 20°C statt 21°C zu planen. Zurückgeführt wurde dies aber auch auf das Übermass an Vorschriften, die für das Planen von Suffizienz zu wenig Spielraum liessen, und schliesslich auch die mangelnde Toleranz der Nutzer selber. «Wir müssen die Suffizienzdebatte führen, bevor wir dazu gezwungen werden», so ein Fazit aus der abschliessenden Podiumsdiskussion, dem wohl niemand etwas entgegenzusetzen hatte. Ebenso einig waren sich die Anwesenden, dass Suffizienz dafür der falsche Begriff ist. Zu sehr erinnert das Wort an Verzicht.

Sonja Lüthi, Kommunikation SIA


Tagungsdokumentation

Filmmaterial, Fotos der Tagung, die Präsentationen sowie Hintergrundtexte zum Thema Suffizienz finden sich auf der Website: www.sia.ch/suffizienz. Anlässlich der Tagung ist zudem ein zweisprachiges (de/fr) Dossier TEC21/Tracés mit Beiträgen der Trägerorganisationen und Referenten erschienen. Die Publikation ist ebenfalls auf der Website des SIA abrufbar oder kann für 12 Fr. (exkl. Versandkosten) in Heftform bestellt werden unter: abonnemente(at)staempfli.com.


Der SIA und die Suffizienz

Um die ehrgeizigen Klima- und Energieziele der Energiestrategie 2050 zu erreichen, setzt der Bund primär auf Effizienz und Konsistenz (Substitution durch erneuerbare Energien). Im Juni des vergangenen Jahres regte der SIA-Fachrat Energie (FE) dazu an, zusätzlich zu diesen vorwiegend technischen Massnahmen als dritte Option auch die Suffizienz, d.h. die Frage nach dem richtigen Mass, in die Betrachtung mit einzubeziehen. Da Suffizienz weit in gesellschaftspolitische Fragestellungen hineingreift, sollte die Diskussion mit einer interdisziplinären Tagung und einer Begleitpublikation lanciert werden. Mit der Stadt Zürich als Co-Initiantin und EnergieSchweiz als drittem Partner war das Projekt von der Konzeptphase an breit abgestützt.
Die Ergebnisse der Tagung werden derzeit ausgewertet. In welcher Weise der SIA das Thema weiterverfolgen wird, ist Gegenstand der nächsten Sitzung des FE im November 2013.

 

Suffizienz

Ist Suffizienz ein anderes Wort für «Rationierung» und gibt es die vielgepriesene Kostenwahrheit überhaupt? v.l.n.r.: Moderator Daniele Ganser, Thomas Held, Marcel Hänggi, Rahel Gessler, Rudolf Dieterle, Hans-Georg Bächtold. © Manuel Friederich

Psychoanalytiker Peter Schneider findet den Exzess und die Mässigung gleichermassen kulturbildend. © Manuel Friederich

Für Res Keller von der Baugenossenschaft Kalkbreite heisst das Schlüsselwort nicht Suffizienz, sondern «leichter Leben». © Manuel Friederich