27.01.2012 | tec21 | Claudia Schwalfenberg

Mehr als Nachwuchsförderung

Wer den Nachwuchs von morgen für technische Berufe begeistern möchte, darf sich nicht auf die unmittelbare Nachwuchsförderung beschränken. Erfolg haben wird nur, wer Technik zu einem selbstverständlich akzeptierten Teil der Allgemeinbildung macht. Was fehlt, ist eine neue gesellschaftliche Wertschätzung der Technik.

Spätestens seit dem geichnamigen Bericht des Bundesrates von August 2010 ist der «Mangel an MINT-Fachkräften in der Schweiz» offiziell. An Initiativen, um Fachkräfte für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik zu gewinnen, mangelt es hingegen kaum. Zwei neue Projekte sollen nun Übersicht schaffen und die verschiedenen Akteure zusammenbringen. Seit letztem November ist die neue Webplattform educamint.ch online. Unter dem Slogan «MINT für die Schule» bündelt die Datenbank Angebote aus Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Im November trat ausserdem die Stiftung MINTeducation mit einer Tagung zum Thema «Bildung und Nachwuchsförderung im Disziplinenverbund MINT» erstmals an die Öffentlichkeit. Die Stiftung strebt ein gleichnamiges nationales Forschungsprogramm an, das sie Ende 2012 beim Schweizerischen Nationalfonds einreichen möchte. Das Projekt gliedert sich in acht Module: obligatorische Schule, gymnasiale Maturitätsschulen/ Fachmittelschulen, berufliche Grundausbildung, Tertiärstufe, Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen, ausserschulische Lernorte, Politik und Öffentlichkeit.

Die kulturelle Dimension einbeziehen
Für den Erfolg solcher und ähnlicher Initiativen ist die Einsicht zentral, dass es um mehr gehen muss als um reine Nachwuchsförderung. Die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, kurz acatech, hat in den letzten Jahren mehrere Studien durchgeführt. Sie zeigen, dass eine frühe und breite Förderung von Basiskompetenzen unabdingbar ist, um – auf einer allgemeinen Scientific Literacy aufbauend – Talentsuche und -förderung betreiben zu können. Technikbildung schafft aber nicht nur ein Reservoir an potenziellen Nachwuchskräften, sondern auch «die Möglichkeit zur vollen gesellschaftlichen und politischen Teilhabe», so das «Nachwuchsbarometer Technikwissenschaften» der acatech. Der technische Unterricht dürfe sich «daher nicht alleine auf einen Fachunterricht beschränken, sondern muss Lerneinheiten zu sozialen Folgen, Chancen und Risiken der Technik einschliessen».

Wohl nicht nur aus Sicht der planenden Berufe wäre das Nachwuchsbarometer zwingend, um die kulturelle Dimension der Technik zu ergänzen. Nicht umsonst hält das Manifest zur Baukultur des vom SIA initiierten Runden Tischs Baukultur Schweiz fest: «Wie andere kulturelle Ausdrucksformen auch ist Baukultur eine ästhetische und symbolische Manifestation gesellschaftlicher Übereinkünfte, die den Wandel der Zeit spiegelt.» Nicht nur Architektinnen, auch Bauingenieure üben einen Beruf aus, dem eine ästhetisch-künstlerische Komponente innewohnt. Für die Imagepflege des Ingenieurberufs wird sein kreatives Potenzial bisher aber nicht einmal in Ansätzen genutzt. Karrierechancen und Verdienstmöglichkeiten mögen ein Motiv für Berufswahlentscheidungen sein. In immer noch wohlhabenden Gesellschaften wollen relevante Gruppen aber mehr, selbst wenn die Voraussetzungen für postmaterialistische Lebensentwürfe angesichts globaler Wirtschaftskrisen brüchiger werden.

Weibliche Technikablehnung hausgemacht
Niemand wird als Ingenieur geboren. Neurobiologen wie Gerald Hüther betonen, dass unsere Erfahrungen selbst unsere Gene verändern. Die Neuroplastizität des Gehirns ist eine fundamentale Voraussetzung fürs Lernen. Der Lernforscher Willi Stadelmann kommt deshalb zum Schluss, dass die Aversion vieler Mädchen gegen MINT-Fächer von der Gesellschaft gemacht ist. Die Studie «Monitoring von Motivationskonzepten für den Techniknachwuchs», ebenfalls ein Projekt der acatech, kommt zu ähnlichen Ergebnissen: «Die ablehnende Haltung von Mädchen und Schülerinnen gegenüber der Technik» werde «in frühen Phasen der Sozialisation erlernt und verinnerlicht».

Wenn sich Mädchen und Frauen dann trotz Selbstzweifeln und trotz negativen Kommentaren von Mitschülern und Kommilitonen für einen technischen Beruf entscheiden, geht der Hürdenlauf nach einem erfolgreichen Studienabschluss gleich weiter. Sie haben mehr Mühe beim Berufseinstieg als ihre männlichen Kollegen, niedrigere Einstiegsgehälter und schlechtere Aufstiegschancen, wie eine aktuelle Studie der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften festhält. Wer den Frauenanteil in Ingenieurberufen erhöhen und dadurch das Potenzial an Nachwuchskräften vergrössern möchte, wird auch aus diesem Grund nicht bei Angeboten zur Vermittlung technischer Inhalte haltmachen können. Er wird für einen Kulturwandel sorgen und faire Chancen im Berufsleben schaffen müssen.

Die Phänomene retten
Lernforscher Willi Stadelmann warnt generell davor, zu früh zu abstrahieren und mangelndes Abstraktionsvermögen als Selektionsinstrument zu missbrauchen. Eine «lebenslange Abwehr gegen Mathematik und Physik» werde so vorprogrammiert. Die Fähigkeit zur Abstraktion müsse erst entwickelt werden und führe über die Konkretion. Stadelmanns Appell: «Rettet die Phänomene!» Auch hier kommt das «Nachwuchsbarometer Technikwissenschaften » der acatech zu ähnlichen Schlüssen. Das Barometer benennt drei zentrale Faktoren für das Interesse an einem technischen Beruf: «frühe Begegnung und spielerische Auseinandersetzung mit Technik, zum zweiten Schlüsselerlebnisse, in denen Technik punktuell als interessant und herausfordernd erlebt wird (zum Beispiel Science Center) und zum dritten kontinuierliche, didaktisch gut aufbereitete Technikbildung in der Schule». An den Phänomenen setzt auch ein aktuelles Projekt des SIA an. Im Park des Swiss Science Center Technorama in Winterthur wollen der SIA und das Technorama einen 150 m langen Pier errichten. Der «SIA Pier» soll unterschiedlichste Experimente aus dem Bereich Naturwissenschaften und Technik integrieren. Ziel ist ein emotionales Erlebnis, das junge Menschen für den Ingenieurberuf begeistert. Die Realisierung des SIA Pier wird hauptsächlich über Sponsoren erfolgen müssen, die Experimentideen einbringen können.

Claudia Schwalfenberg, Bildungsverantwortliche SIA