23.04.2010 | Interview: Sonja Lüthi, Kommunikation SIA

«Verantwortung ist nicht teilbar»

Herr Kündig, Sie sind Präsident des SIA, im Beirat verschiedener Schulen, Gründungs- und Vorstandsmitglied unterschiedlicher Verbände und Stiftungen und Partner im Architekturbüro UC'NA. Auf welche Interessen ist dieses sehr breit gefächerte Engagement zurückzuführen?
  Die Architektur in ihrer gestaltenden Kraft und die Bedeutung der Verantwortung, die wir als Architekten gegenüber der Gesellschaft und gegenüber unseren Auftraggebern wahrzunehmen haben, sind Schwerpunkte, die mich interessieren. Diesen beiden Themen sind alle meine Tätigkeiten unterstellt.

Verantwortung hat immer auch mit dem zu tun, was in unserer Macht liegt. Was glauben Sie liegt heute noch in der Kompetenz von Architekten?
  Verantwortung hat auch mit Anspruch zu tun. In der Baukultur ist sie nicht teilbar. Sie ist mit Vielen und interdisziplinär bearbeitbar, aber muss durch jemanden verantwortet werden, beim Hochbau und beim Städtebau durch den Architekten als Generalist. Ich bin der Überzeugung, dass Architekten nur Architekten sind, wenn sie sich nicht auf einen Teil beschränken, sondern die Verantwortung für das Ganze übernehmen. In der Praxis sollten Architekten deshalb bemüht sein, früh in den Entwicklungsprozess einzutreten.

Architektur ist politisch

  Je früher man in einen Prozess eintritt, desto politischer sind in der Regel die Fragestellungen. Inwiefern müssen sich Architekten Ihrer Ansicht nach politisch engagieren?
  Architektur ist politisch. Keine Handlung ist apolitisch. Die Frage ist, wie handeln wir aktiv darin. In politischen Gremien sind wir Planer wenig vertreten. Aber ist es überhaupt wichtig, dass Architekten im National-, Stände- oder Bundesrat vertreten sind? Ich glaube nicht. Unsere Aufgabe sehe ich vielmehr darin, dass wir mit unserer Arbeit präziser und auch lauter werden müssen. 9Lauter: im Sinne von uns qualifiziert bemerkbar machen. Die Finanzkrise und das Scheitern des Manchester-Liberalismus empfinde ich als Chance, Qualitätsfragen wieder stärker in der Gesellschaft zu verankern und sie politisch einzufordern.

  Seit bald zehn Jahren sind Sie Präsident des SIA. Was war anfangs Ihre Motivation, dieses Amt anzunehmen?
  Die tief greifenden Auseinandersetzungen zwischen den Architekten und den Ingenieuren im SIA - die beinahe zur Trennung dieser Disziplinen geführt haben. Dies führte mich zur Überzeugung, dass wir unserer grossen Verantwortung gegenüber der Gesellschaft nur gerecht werden können, wenn es uns gelingt, eine neue Kultur der Zusammenarbeit und ein neues Profil zu prägen und dieses in der Gesellschaft zu verankern. In ersten Gesprächen mit Lorenz Bräker, der mich für das Präsidium angefragt hatte, merkte ich zudem, dass sehr viele der für Planer wichtigen Instrumente angegriffen werden und hier neue Wege gefunden werden müssen. In die­se Zeit fiel beispielsweise die Drohung der Wettbewerbskommission, den SIA wegen kartellistischer Aktivitäten - gemeint waren die Honorarordnungen - einzuklagen.

  Wie hat sich Ihr Bild des SIA gewandelt?
  Neu war für mich die Erkenntnis, dass eine Vielzahl von Planern ehrenamtlich an der Qualität des Bauwerks arbeitet, in einer hohen fachlichen Kompetenz und das mittlerweile seit fast 175 Jahren, diese Leis­tung aber nicht politisch verankert ist. Weder gibt es seitens der Politik eine bewusste Delegation dieser Aufgaben an den SIA noch eine Wahrnehmung, geschweige denn eine Würdigung durch die Politik, dass diese Grundlagenarbeit überhaupt geleistet wird. Diese Arbeit, die in Normen, Ordnungen und Dokumenten eingeflossen ist, hätte die Gesellschaft wohl mehrere Milliarden Franken gekostet. Eine andere Einsicht, die ich erhielt, war, dass die tiefen Interessenkonflikte innerhalb des SIA nicht ideologisch geprägt sind, sondern inhaltlich.

Keine Wertung der Energie-Modelle

  Blicken wir auf die gegenwärtigen Schwerpunktthemen des SIA, scheint insbesondere das Thema Energie sowohl inhaltlich als auch ideologisch stark zu polarisieren.
  Das Ziel ist einheitlich: eine massive Reduk­tion der Treibhausgase - entweder durch weniger Energieverbrauch oder durch einen Ausbau der sauberen Energieproduktion. Dahinter stecken zwei unterschiedliche Haltungen, verschiedenen Visionen und Mis­sionen: Wenn ich der Ansicht bin, dass ich genug Sonnenenergie zur Verfügung habe, um die Welt mit genügend Energie zu versorgen, ist es nicht mehr mein Ziel, Energie zu sparen, sondern diese auf sinnvolle Weise verfügbar zu machen. Die andere Haltung ist zurückhaltender: Die Energie sollen wir erst dann wieder verschwenden, wenn wir sie haben. Bis dahin müssen wir hocheffizient bauen. Beide Ansätze sind fachlich vertretbar und notwendig. Und die Aufgabe des SIA? Der SIA hat die verschiedenen Modelle darzustellen und entsprechende Instrumente bereitzustellen - nicht die Entscheidung für die Gesellschaft zu treffen, ob das eine Modell besser ist als das andere. Der SIA muss differenzieren, die Themen der grauen Energie, des grauen Wassers, der induzierten Mobilität, der Energiedistribution aufnehmen und sie mit all den anderen Herausforderungen beim Bauen verknüpfen. Gleichzeitig müssen wir uns dafür einsetzen, dass das Thema nicht zu einseitigen Betrachtungen führt, wie sie oftmals durch Förderprogramme begünstigt werden. Gefördert werden Rezepte, und entsprechend rezepthaft sind auch viele Initiativen im Bereich Energie. Das führt beispielsweise dazu, dass einem nicht-zukunftsfähigen Haus ein "Pullover" angezogen wird. So wird Kapital gebunden, das einer zukünftigen Generation nicht mehr zur Verfügung steht.

Architekturausbildung in fünf Jahren

  Neben dem Thema Energie erforderte das Thema Bildung während des letzten Jahrzehnts, vor allem bedingt durch die Bologna-Reform, ein grosses Engagement seitens des SIA.
  Das Thema Bildung erachte ich als zentral, aber weit über die Fragen der Bolognareform hinaus. Es erfordert ein tiefes Verständnis der Praxis und die enge Zusammenarbeit mit den Bildungsinstitutionen, wie sie der SIA pflegt. Ein Ergebnis des Austausches mit den Hochschulen ist der Architekturrat, mit Einsitz der beiden ETH, der Fachhochschulen und der USI, der an der Entwicklung der Ausbildungsgänge mitarbeitet und die These des SIA unterstützt, dass eine Architekturausbildung fünf Jahre dauern muss und erst danach die Spezialisierung stattfindet. Als Projekt für das nächste Jahr steht die Gründung eines Ingenieurrates an.

  Inwiefern bleibt innerhalb der Bologna-Strukturen überhaupt ein Gestaltungsspielraum übrig?
  Zweifelsohne hat Bologna in den ersten Jahren zu einer Verschulung der Hochschulen geführt, und die krampfhafte Angleichung von ETH und FH-Ausbildung zulasten der praxisnahen Ausbildungen wirkt einer praxisgerechten Differenzierung entgegen. Um etwas über die tatsächlichen Auswirkungen der Reform sagen zu können, ist diese aber noch zu jung. Ich glaube an die Dynamiken, die sich zurzeit in jeder Schule entwickeln, und an ihre korrektive Wirkung. Daneben wird sich der SIA aber selbstverständlich weiterhin für ein duales Ausbildungssystem einsetzen. Einer der Schwerpunkte der diesjährigen Bildungsinitiative ist beispielsweise die Entwicklung und Stärkung des Profils Bauleiter.

Mehr Transparenz im Vergabewesen und in der Raumplanung

  Auch zu den anderen Schwerpunkten des SIA für 2010 möchte ich noch einige Worte sagen:

  •   Da die Revision des Bundesgesetzes über das öffentliche Vergabewesen gescheitert ist, haben wir noch grosse Lücken im Bezug auf die Beschaffung intellektueller Dienstleistungen. Beschaffungsprozesse in der Bauwirtschaft sind heikle Prozesse, die einer sehr grossen Transparenz bedürfen. Zusätzliche Brisanz erhält das Thema, dadurch, dass die Nachfrager, namentlich die KBOB, ihre eigenen Vertragsgrundlagen machen. Unsere Aufgabe ist zu gewährleisten, dass diese Verträge nicht zu einem Nachfragerkartell führen, sondern partnerschaftlich Prinzipien folgen.
  •   Auch in der Raumentwicklung braucht es jetzt die Expertise des SIA. Es kann nicht sein, dass eine Verwaltung ein Gesetz von dermassen hoher Brisanz entwickelt, ohne sich gewiss zu sein, dass es an der Vernehmlassung angenommen wird. Die Revision ist gescheitert, obwohl im Grundsatz zu Beginn die Zielformulierungen in die richtige Richtung wiesen. Wir glauben, dass es auch hier eine hohe Transparenz braucht und eine fachlich geführte Diskussion, damit Raumstrategien entwickelt werden können und ein Konsens entstehen kann. Sonst leisten wir Initiativen Vorschub, die absolute Einzelinteressen vertreten und keine nachhaltigen Entwicklungen mehr zulassen wie die Landschaftsschutzinitiative.


  Ein für den SIA selbst äusserst relevantes Projekt ist die laufende Organisationsbewertung, die umfassender scheint als erwartet.
  Zehn Jahre nach der Neuausrichtung ist es an der Zeit für einen Rückblick und eine Auswertung: Haben wir die Ziele von damals erreicht, und wenn nicht, weshalb nicht? Stimmen die Ziele von damals überhaupt noch? Was hat sich verändert? Wo ist welche Macht konzentriert und warum? Wie arbeitet eine NPO wirkungsvoll? Wenn wir unsere Wirkung erhöhen wollen, müssen wir die Schnittstellen reduzieren, Prozesse verschlanken, Doppelspurigkeiten ausmerzen. Vor allem aber müssen wir die Strategie, die Prozesse und Strukturen, die damals festgelegt worden sind, hinterfragen. Nicht weil unsere Kollegen dies damals schlecht gemacht haben, sondern weil sich die Rahmenbedingungen radikal geändert haben. Das wird Folgen haben für die Struktur. Aber an der Struktur arbeiten wir am Schluss, weil sie ein Abbild der Prozesse ist, die Prozesse sind ein Abbild der Strategie, und die Strategie wiederum ist ein Abbild unseres Auftrags und unserer Ziele: Was ist der Zweck dieses Vereins? Was ist unsere Vision?
 

Die Vision des SIA

  Ja, was ist die Vision des SIA?
  Die zukunftsfähige Entwicklung des Bauwerks Schweiz. Diese Vision muss im Zentrum all unseres Tuns stehen. Da herrscht nun Konsens, und das will viel heissen: Im Zentrum steht nicht das Ich, sondern das Bauwerk.

  Zum Abschluss eine Frage, zitiert aus dem Werk 9Achtung: die Schweiz:: 9Was würdest du unternehmen, wenn du einmal verwirklichen könntest, was du willst?:
  Das, was ich mache. Manchmal mit ein bisschen weniger Bürokratie. (lacht) Und: Bevor ich zurücktrete, will ich das Architekturgesetz nochmals aufgleisen. Das ist ein Gesetz, das die Gesellschaft und die Bauherren vor Inkompetenz schützt, den Architekten auf dem offenen internationalen Markt die gleichen Chancen wie unseren ausländischen Kollegen gibt und Architektur als kulturelle Leistung verankert. Denn die sogenannte Öffnung des Markts durch die WTO bewirkte für unsere Berufsleute, die nicht in Kammern organisiert sind, de facto das Gegenteil. Die Anzeichen für eine Umsetzung stehen gut!